dr. jur. Hubert Lang

Hans Bachwitz

Masken des Lebens

Graf Settitz-Lennichau ging mit festen Schritten durch das prunkvolle Rauchzimmer, seine Lackschuhe blitzten auf dem dicken Perserteppich. Am Fenster blieb er stehen, wandte sich kühl um und sagte, während er nachlässig den graumelierten Spitzbart streichelte, gleichmütig zu seiner Tichter Irene, die in einem Sessel schluchzte: „Tränen? Ich hätte nicht geglaubt, daß du zu solchen banalen Mitteln deine Zuflucht nehmen würdest. Jedenfalls kennst du meine Ansicht: ein simpler Forsteleve hat nicht die mindeste Hoffnung, mein Schwiegersohn zu werden!“ Er zuckte die Achseln und ging zur Tür.
„Vater!“ rief Irene und hob die Arme. Aber der Graf drückte rasch die Klinke nieder und ging hinaus in einen schmalen, halbdunklen Gang, der mit Versatzstücken und Kulissen verstellt war. Beinahe wäre er über einen Bohrer gestolpert. „Schweinerei!“ zischte er dem Inspizienten zu, der es lächelnd überhörte. Denn der Charakterspieler Friedrich Laue vom Stadttheater in X., der heute den Grafen Settitz-Lemnichau in einem sentimentalen Drama zu verkörpern hatte, war – das stand fest – ein miserabler Komödiant, dessen Tage im Verbande des Stadttheaters gezählt waren.
Der gleichen Auffassung war auch Dr. Robert Kunitz, der Kritiker. Er wandte sich ironisch lächelnd zu dem neben ihm sitzenden Jeschke, dem Brauereidirektor: „der gute Laue wird langsam peinlich. Einer, der immer Laue bleibt. Er kann sich noch so ernstlich verkleiden, irgendwo guckt Laue aus der Schminke. Was verübt er heute?“ Kunitz hielt den Theaterzettel dicht vor die Augen. „Graf Settich-Lennichau! Na, danke bestens. Graf Friedrich Laue!“ Und er blinzelte nach der Loge links, wo Martha saß, die blonde Tochter des Geheimrats, der er sich nun in den nächsten Tagen unwiderruflich erklären wollte.
Nach der Vorstellung saßen sie in der „Rose“ um den Stammtisch. Kunitz, Jeschke, der Assessor Bomst, Dr. Freudenbaum, der Halsspezialist und Bankier Marx. Und wie allabendlich, so trat auch heute Friedrich Laue, der Charakterspieler, durch die von einem roten Frieszelt halb umschlossene Windfangtüre in das rauchige, von allerhand Lärmen erfüllte Lokal. Mit seinen kurzen, zögernden Schritten ging er vorwärts, den beschlagenen Kneifer in der Hand, blinzelnd und gebückt. Aus dem hochgeschlagenen Kragen des Ulsters ragte auf dünnem Halse der zu lang geratene Kopf mit dem bartlosen Gesicht, der einfältigen Nase, den wirren Haarsträhnen, die spitz die gelbe Stirn beleckten. Er hielt den Mund fest geschlossen wie einer, der Zugluft fürchtet. Als ein Kellner „Guten Abend, Herr Laue“ sagte, fiel ihm der runde graue Plüschhut aus der linken Hand.
„Herr Graf! Herr Graf!“ schrie Jeschke und lachte dröhnend, daß der imposante Bauch wippte. Ohne Grund lachten die andern um den Stammtisch auch, und Jeschke schrie, stolz auf seinen Erfolg, noch einmal: „Herr Graf!“
Friedrich Laue verzog die Mundwinkel vor Haß. Da hockte diese Bande wieder, mit der er jeden Abend zusammentraf, obwohl sie ihm das Leben vergällte und den Appetit am Wiener Rostbraten, den er ständig bestellte. Scharf gebraten, nicht englisch! Während er nach kurzer Verneigung die Überkleider aufhängte, warfen sich seine „Freunde“ Blicke voll Ironie, Geringschätzung und Mitleid zu. Friedrich Laue sah diese Blicke, obwohl er abgewandt, kurzsichtig und scheinbar mit seinem Kneifer beschäftigt war. Wie er sie haßte! Und wie er diesen Haß verbergen mußte, denn die Rotte war einflußreich, bereit und fähig, zu vernichten, wer sich gegen sie auflehnte. Friedrich Laue lehnte sich nicht auf. Er reichte jedem eine demütige Hand, die schlaff genommen wurde. Der Kellner stellte ein kleines Kulmbacher vor ihn hin.
„Wiener Rostbraten, scharf gebraten, nicht englisch!“ sagte Friedrich Laue, und er sagte es genau so, wie vorhin der Graf Settitz-Lennichau seiner Tochter Irene den Forsteleven verboten hatte. Kunitz lachte. „So’n netter, junger Mann,“ meinte er und zündete eine Zigarette an, muß nu ausgerechnet Schauspieler werden. Traurig! Traurig!“
„Laue, wie wird Ihnen angesichts dieses kritischen Richtschwerts?“ fragte Assessor Bomst und machte größenwahnsinnige Augen. Im Innern war er an dem traditionellen Ulk gegen Laue unbeteiligt. Er verachtete Kunitz, Jeschke, Freudenbaum und Marx ebenso. Assessor Bomst verachtete jeden Menschen, ausgenommen die Vorgesetzten.
Kunitz tat beleidigt, daß ihm Bomst offenbar zutraute, er werde Laue verreißen. Er würde ihn im Gegenteil loben. Kunitz lobte immer. Er hatte gefunden, daß das mit der Zeit viel peinlicher war.
„Ein G… G… Gr..a..af w..w..war d..d..das nnnich!“ stotterte Marx und schwoll an. Er hatte Urteil in solchen Dingen, denn zu seinen Kunden gehörte der Fürst von Ellringen. Allerdings stark passiv.
„Vielleicht lieht ihm die Rolle nicht,“ mutmaßte Dr. Freudenbaum, „Sie sollten überhaupt mal zu mir in die Sprechstunde kommen, Laue, mit Ihrem Hals ist was nicht in Ordnung!“
„Den Herren zum Wohle!“ rief Laue, die rotgefrorenen, dürren Finger um den Henkel des erhobenen Glases. Er räusperte sich unbewußt, als Freudenbaum seinen Hals anzweifelte.
„Da haben Sie’s!“ gab der Arzt zu bedenken. „Also morgen um sechse!“
Friedrich Laue trank Kulmbacher, aber ihm war, als ob er Häcksel hinabwürge. Bande! dachte er. Bande! Aber er lächelte wie immer blöde und ergeben. „Die Rolle,“ sagte er bedächtig und runzelte die Stirn, weil ihm nichts einfiel, „die Rolle – mein Gott!“ Da setzte der Kellner den Rostbraten vor ihn hin, und Friedrich Laue putzte das Besteck mit der Serviette.
„Im Ernst, Laue,“ begann Kunitz, „Sie müssen nu endlich mal zeigen, daß Sie zu den schönsten Hoffnungen berechtigen. Wir haben, offen gestanden, genug Friedrich Laues gesehen, wir wollen auch mal Gestalten erblicken, unter deren Namen Sie auf dem Theaterzettel figurieren. Wenn Sie Bassermann[1] wären oder Wegener[2] oder Brausewetter[3], gut, könnten Sie immer Bassermann oder Wegener oder Brausewetter sein – wäre uns eine Ehre!  Und ein Vergnügen. Aber solange Sie im Leben nur Friedrich Laue sind – Sie gestatten unter Freunden ein offenes, wohlgemeintes Wort -, müssen Sie vermeiden , es auch auf der Bühne zu sein. Sein Sie statt dessen Wallenstein oder Polonius oder Adam oder meinetwegen Graf Settitz-Lennichau!“ Er brannte eine neue Zigarette an und fand allgemeinen Beifall.
„Mit einem Worte: spielense Theater, das Publikum ha ja woll Anspruch drauf!“ beantragte drohend Assessor Bomst. Und Freudenbaum empfahl wiederholt seine Kenntnisse der Halsheilkunde.
Friedrich Laue schob angewidert den Rostbraten fort. Er war zäh, hart, ein Stück Korbdeckel, und natürlich englisch. Die „Bande“ hatte ihm den Appetit verdorben. Er trank hastig sein Bier, rief den Kellner und zahlte, wobei er die betrübliche Feststellung machte, daß er noch fünf Mark besaß. An Vorschuß war nicht zu denken, und morgen verlangte sein Schneider eine Zahlung von mindestens hundert Mark. Friedrich Laue fühlte sich elend. Er zog hastig den Ulster an. Mit matter Höflichkeit versuchte man, seinen Aufbruch hinzuhalten.  Kunitz fühlte sich zu der Bemerkung veranlaßt, er werde doch kein Spielverderber sein. Bomst sah ihn an wie einen renitenten Beschuldigten, und Jeschke gab der Vermutung Ausdruck, wahrscheinlich treffe sich Laue mit einer Dame. Dabei machte er runde Augen und spitzte den Mund.
Als Friedrich Laue die Hände in den Taschen, den  kleinen runden Plüschhut in der Stirn durch die Windfangtür schritt, dachte er, atemlos vor Haß: Diese Bande! Diese Bande! Wenn man es ihr doch beweisen könnte! Aber da wäre er beinahe mit einem dicken Herrn zusammengeprallt und stob hinaus, ein demütiger Empörer.

Dr. Kunitz wohnte in einer vornehmen, aber einsamen Straße. Als er drei Stunden später sein Haustoraufgeschlossen hatte und eben eintreten wollte, spürte er hinter sich einen Menschen. Er sah sich, jäh erschreckend, um und gewahrte ein Individuum mit einer Joppe und einer Sportmütze. Das blasse, wüste Gesicht leuchtete fahl. Er wollte schreien, da hatte er einen Stoß im Rücken, der ihn in den Hausflur schleuderte. Die Tür schlug automatisch zu, und schon hatte der Strolch ihn am Kragen, verlangte die Brieftasche, oder – – – – Dr. Kunitz gab später an, er habe ein Messer funkeln gesehen. Er reichte die Brieftasche dem Räuber, der sofort verschwand und die Haustür, in deren Schloß noch der Schlüssel steckte, versperrte. Das Ganze hatte nur Sekunden gedauert.
Friedrich Laue aber jubelte. Man hatte ihn nicht erkannt. Kunitz hatte ihn nicht erkannt, aber, der immer behauptete, Friedrich Laue sei in jeder Maske Friedrich Laue, und als solcher unverkennbar. Welcher Triumph, wenn er morgen abend in der „Rose“ die Brieftasche auf den Tisch werfen würde. „Bitte, Herr Doktor, der Strolch war ich, und hier ist ihre Tasche!“ Oh, er würde es ihm beweisen, daß er ein Komödiant war!
In der Brieftasche waren insgesamt 346 Mark in Scheinen, Visitenkarten, ein Ausweis der Redaktion und ein Billett von der blonden Martha, die sich für Blumen bedankte. Friedrich Laue erinnerte sich, daß er so gut wie nichts mehr besaß, daß der Schneider eine Zahlung forderte, daß er noch Miete und Waschgeld schulde. Kunitz war wohlhabend, er würde den Verlust verschmerzen. Friedrich Laue war im Elend. Zweifellos stand seine Kündigung bevor. Dann erdrosselte ihn das bittere Schicksal des verkommenen Schauspielers, der in Dorfkneipen gaukelt, zum Fusel herabsinkt und auf der Landstraße endet.
Friedrich Laue steckte hastig die Geldscheine ein und verbrannte die Brieftasche. Aber in seine wirren Träume noch leuchtete der Triumph darüber, daß er heute nacht  n i c h t  Friedrich Laue gewesen war.

Dr. Freudenbaum, noch bleich und schlotternd vor Aufregung, schilderte dem Assessor Bomst in dessen Amtszimmer den Überfall:
„Denken Sie sich, ich sitze allein in meinem Sprechzimmer und warte auf Laue, den ich zum Pinseln bestellt hatte. Meine Wirtschafterin holte ein. Es klingelt. Ich öffne selber. Vor mir steht ein übermittelgroßer, solid angezogener Herr mit Spitzbauch. Vielleicht vierzig Jahre alt. Graumelierter Bart. Er spricht mit sehr leiser Stimme, hält sich ein Taschentuch vor den Mund. Im ersten Moment denke ich: aha, Kehlkopfsache! Ich bitte ihn herein. Kaum in meinem Sprechzimmer, zieht der Kerl einen Revolver, verlangt Geld. Was konnte ich tun?“
„Schreien!“
„Schreien Sie mal, wenn Sie ‘ne Pistole im Munde haben! Ich gab ihm, was ich hatte – etwa tausend Mark! Dann stößt mich der Kerl in mein Röntgenkabinett, schließt zu und verschwindet. Meine Wirtschafterin, die bald darauf zurückkam, hat ihn noch auf der Treppe gesehen. Ich habe mich gleich auf den Weg zu Ihnen gemacht, aber ich bin mehr tot als lebendig!“
„Und Sie haben gar keinen Anhalt – – – “
„Nicht den mindestens! Ich habe den Kerl früher nie gesehen!“
„Hm!“ Assessor Bomst rieb sich das Kinn. „Vorhin war Kunitz bei mir. Auch er ist das Opfer einer räuberischen Erpressung geworden!“ Und er erzählte dem leidend aussehenden Dr. Freudenbaum das nächtliche Abenteuer des Dr. Kunitz.

In der „Rose“ sprach man von nichts anderem. Friedrich Laue hörte zu, und letzte Spannung lag auf seinem Gesicht. „Donnerwetter! Ist doch wohl nicht möglich! Zwei Überfälle so kurz hintereinander!“ rief er und legte Schrecken in seine Miene. Man beruhigte ihn, ihm werde sicher nichts geschehen! „Und man weiß noch gar nichts von dem Verbrecher?“ fragte er. Assessor Bomst lächelte geringschätzig: „’ne Visitenkarte hat er nicht abgegeben. Übrigens sind es zweie!“ Da beugte sich Friedrich Laue über seinen Rostbraten. Beinahe hätte er sich verplappert, indem er von  d e m  Verbrecher sprach. Er war wirklich ein elender Komödiant.

„Seit einiger Zeit wird unsere Stadt durch das unerhört freche Vorgehen einer Verbrecherband beunruhigt, deren Opfer, wie wir berichteten, bereits die Herren Doktor K. und Doktor F. geworden sind. Leider hat die Gesellschaft auch nicht vor den Schranken des Gerichts halt gemacht. Gestern früh ließ sich bei dem mit der Untersuchung betrauten Assessor B. von der hiesigen Staatsanwaltschaft ein Individuum melden, das behauptete, Angaben über die Überfälle machen zu können. Man schildert ihn als einen noch jungen Mann von etwa 28 Jahren mit hellblondem, glattgescheiteltem Harr und kurzem Schnurrbart. Bekleidet war er mit dunklem Überzieher, steifen schwarzen Hut und hellbraunen Handschuhen. Er soll ein wenig hinken. Kaum war der Mensch zu Herrn Assessor B. geführt worden, als er sich auf ihn stürzte und ihm einen Chloroform durchtränkten Wattebausch auf den Mund drückte. Nachdem er den Beamten so betäubt hatte, beraubte er ihn seiner gesamten Barschaft, die beträchtlich war, weil Assessor B. unseligerweise einen uneröffneten Geldbrief seiner Bank in der Tasche hatte. Hierauf verließ der Verbrecher unangefochten das Gerichtsgebäude. Zweckdienliche Angaben wolle man sofort der Polizei mitteilen.“

S t a d t t he a t e r
Heute abend 8 Uhr zum dritten Male:
D i e  u n e r b i t t l i c h e  L i e b e .
Schauspiel in drei Akten
Letztes Auftreten des beliebten Herrn
F r i e d r i c h  L a u e
als Graf Settlitz-Lennichau.

[1] Albert Bassermann (1867-1952), Film- und Theaterschauspieler, Träger des Iffland-Rings.
[2] Paul Wegener (1874-1974), Film- und Theaterschauspieler, Filmregisseur und Drehbuchautor.
[3] Hans Brausewetter (1899-1945), Film- und Theaterschauspieler, zuletzt am Deutschen Theater in Berlin.