dr. jur. Hubert Lang

Hans Bachwitz

Meine erste Verteidigung

Unter den vielen Möglichkeiten, die die praktische Anwendung der Jurisprudenz bietet, hat mich immer ganz besonders das Verteidigen Angeklagter beschäftigt. Hier war Gelegenheit, ganz unmittelbar in den Kampf ums Recht einzugreifen, hier häuften sich dramatische Effekte, hier kam es in der Mehrzahl der Fälle nicht so sehr auf die Röntgenisierung von Paragraphen und Reichsgerichtsentscheidungen als auf soziologische und seelische Analyse an , hier erkannte ich vor allem die hohe ethische Seite des Anwaltsberufes, den Bedrängten zu helfen und die menschliche Pflicht, es mit aller Unerschrockenheit zu tun, wenn vor dem Gewissen die ewige Frage: „Schuldig oder unschuldig?“ nach ernstester Prüfung zugunsten des Klienten entschieden werden mußte. Unter der Leitung meines unvergeßlichen Lehrers, des Justizrats B.[1], waren mir die obersten Grundsätze des Verteidigers   zum obersten Gesetz geworden, nämlich keine „faulen“ Fälle zu übernehmen und jede Provokation des Gerichtsvorsitzenden oder des Staatsanwalts zu meiden. Nach dieser Maxime hatte B. durch fast 40 Jahre seines Amtes gewaltet, und der Umstand, daß er damals der gesuchteste Verteidiger war, spricht für die Richtigkeit seiner Berufsregeln.
Eines Tages – ich war ein ziemlich junger und recht unreifer Referendar – ließ mich mein Chef rufen. Seine spiegelglatte Glatze war rötlich angelaufen, hinter der funkelnden Brille blitzten die immer wohlwollenden Äuglein, der weiße Kinnbart war zerrauft – alles sichere Anzeichen dafür, daß seinem wachen Sinne für Humor ein Leckerbissen serviert worden war.
In der Hand hielt er einen Brief von gigantischem Ausmaß, der, wie ich rasch feststellte, mit Buchstabenbedeckt war, die der Verfasser offenbar mit einem Besenstiel geschrieben hatte.
„Junger Mann,“ sagte der Justizrat, und der Drehstuhl, auf dem er saß, schüttelte sich gleich seinem Eigentümer vor Lachen, „hier schreibt mir ein gewisser Danny Gürtler – – wissen Sie, wer das ist?“
„Natürlich,“ entgegnete ich, „der sogenannte König der Bohème, oder auch der letzte Bohèmien, wie er sich nennt. Ein Kabarettist mit mehreren Vögeln im Schädel, aber doch irgendwie ein Kerl, der was zu sagen hat. Verrücktes Genie oder geschickter Reklametrommler!“
„Brav, brav,“ lobte B., „ich wußte doch, bei Ihnen käme ich an die rechte Schmiede. Wenn Sie in der Zivilprozeßordnung ebenso Bescheid wüßten, wie in der zeitgenössischen Literatur, könnte ich nachts ruhiger schlafen und die Haftpflichtversicherung herabsetzen. Na – lesen Sie mal das Breve hier!“ Und er gab mir den Besenstielbrief, während er die von Lachtränen angelaufene Brille abnahm und prustend putzte.
Ich habe mir den Brief abgeschrieben und aufgehoben. Folgendes war sein Inhalt:
„Edler Mollah!
Man rühmt Euch als einen Freund der Bedrückten und versichert mir ingleichen, daß Ihr die Tarifschraube mäßig anzieht. So nahe ich mich Euch im härenen Gewande und flehe Euch an: rettet mich vor Kotter und Karzer und vor dem Rachen der Justiz.
Ein Staatsanwalt in Breslau hat Anstoß an meinem Büchlein ‚Menschliches, Untermenschliche‘ genommen und will mich wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften an den Pranger stellen. Wollt ihr mich verteidigen? Ewiger Dank meiner in ihrem Ernährer bedrohten Zucht wird Euch bis ins kühle Grab verfolgen. Außerdem kann ich Honorar zahlen, um Euer Interesse anzufachen.
So Ihr bereit seid, entsendet einen Läufer in das Kaffee Heimerl [2], wo ich auf ihn bis 5 Uhr 1 Minute warte, um dann mit dem Winde um die Wette in Eure Offizin zu rasen. Wo nicht – Goethe – Ihr wißt Bescheid. Gutes Wetter! Euer Danny Gürtler, König der Bohèhme!“
„Na, junger Mann,“ meinte B., „wie wär’s? Wollen Sie diesen Kollegen von der Feder verteidigen? Das wäre doch was für Sie!“
„und ob ich will!“ rief ich, „die Sache interessiert mich sehr!“
„Gotte und die Psychiater werden helfen!“ verkündete der Chef und fertigte einen Stift ins Kaffee Heimerl ab, um den König der Bohème holen zu lassen.
Eine halbe Stunde später – ich brütete schon mit allen Fiebern über der Vorstellung, zum ersten Male und noch dazu in Breslau verteidigen zu dürfen – schmetterten Trompetenstöße im Korridor der Kanzlei. Alles stürzte hinaus, vom jüngsten Stift bis zum „Alten“. Auf dem Gang stand hünenhaft, hohe Lackstiefel an den Beinen, ein Samtwams um den herkulischen Oberkörper, Danny Gürtler und blies Signale. Nachdem er das ganze Volk herbeigerufen hatte, nickte er befriedigt mit dem Löwenhaupt, das rabenschwarze Locken umwallten, und dröhnte: „Gott zum Gruße! Wo ist der Brotgeber dieses blühenden Unternehmens?“
B. trat vor und wollte offenbar die merkwürdige Einführung des Mandanten rügen. Aber er prallte vor einem Schnellfeuer von Trompetenstößen zurück und verschwand rasch im Arbeitszimmer. Offenbar fürchtete er für seine Würde.
Bald darauf war ich vollkommen im Bilde. Abends wollten wir, Danny und ich, nach Breslau reisen, vor dessen Strafkammer am folgenden Morgen peinlich gegen den letzten Bohémien verhandelt werden sollte.
Ich will nicht schildern, was sich nach meinen eingehenden Tagebuchaufzeichnungen auf der Nachtfahrt alles ereignete – es würde zu weit führen. Nur sei nicht verschwiegen, daß Danny darauf bestand, im Damenabteil zu fahren, weil es ganz leer war und durch keine Gewalt oder Drohung daraus entfernt werden konnte. Wurden die Zugbeamten erregt, so blies er ihnen eins auf der fürchterlichen Trompete, und bald herrschte auf dem Gang vor unserem Abteil ein so gefährlicher Menschenauflauf, daß der Zugführer von weiteren Maßnahmen absehen und das Schild „Frauen“ knirschend entfernen mußte. Danny aber hielt eine kurze, kernige Ansprache „an das Volk“ und ermahnte es, jetzt nach Hause, das heißt in seine Abteile, zu wandeln. Worauf er kunstvoll Zapfenstreich blies und die Lampenbehänge herunterzog.
In Liegnitz sah er aus dem Fenster und bemerkte beiläufig, daß die Bahnhofsuhr um volle drei Minuten nachging. Er schrie mit Stentorstimme nach dem Bahnhofsvorsteher, eine wichtige, den gesamten Eisenbahnverkehr betreffende Meldung sei zu erstatten. Als der rotbemützte Beamte herankeuchte, ermahnte ihn Gürtler, sofort die Bahnhofsuhr richten zu lassen, unermeßliches Unheil könne geschehen, wenn eine Bahnhofsuhr nicht pünktlich auf die Minute ginge. „Sind wir in Timbuktu, Herr, oder im preußischen Liegnitz, von dem schon Shakespeare singt: ‚Was liegst du, Liegnitz, unnitz im Weg?‘“
Der Bahnhofsvorsteher wollte die Wache alarmieren, aber der Zugführer trat zu ihm und erläuterte kurz den Geisteszustand Gürtlers. Hierauf trat der Rotmützige respektvoll zurück. „Wohin reisen Sie?“ fragte er noch. „Ins Gefängnis!“ schrie Gürtler, „Halten Sie die Gerechtigkeit nicht auf!“ Und er neigte sich weit hinaus: „Abfahren!!“ Aus allen Fenstern sahen lachende Menschen.
Eigentlich war das konfiszierte Druckwerk recht harmlos, und heute würde es keinem Staatsanwalt eingefallen sein, gegen den Verfasser deswegen Anklage zu erheben. Die ganze Sache wäre in einer Stunde erledigt gewesen, aber Dank Dannys Methoden saßen wir bis in die späte Abendstundevor den Schranken der Breslauer Strafkammer.
Der Angeklagte verlangte nämlich, daß das ganze Buch in Gegenwart der Sachverständigen verlesen werde. Hierauf schloß der Vorsitzende die Öffentlichkeit aus, und der Gerichtsschreiber leierte die Verse herunter. Gürtler unterbrach in andauern, bemängelte die klägliche Technik des Vortrages, sagte dem Schreiber eine geringe Karriere voraus und empfahl ihm dringend und immer wieder, bei Possart Deklamationsunterricht zu nehmen. Dann schrieb er hastig ein paar Worte auf ein Blatt Papier und gab es dem Saaldiener.
Endlich, nach fast zehnstündiger Sitzung, begannen die Plädoyers. Der Staatsanwalt, der viel gelacht hatte, war milde und beantragte eine geringe Bestrafung. Ich erschöpfte den Fall nach seiner tatsächlichen und rechtlichen Seite und beantragte Freisprechung. Tränenüberströmt fiel mir Danny um den Hals und dankte mir vor dem Forum für mein tiefergreifenden Worte, die seinem Herzen wohlgetan hätten. „Zieht euch zurück!“ sagte er dann zum Gerichtshof. „Und möge Gott euch erleuchten!“
Das war dann doch zuviel, und er bezog 20 Mark Ordnungsstrafe. „Ich werde solche auf Staatskosten absitzen!“ versprach der Angeklagte feierlich. „Mögen darüber auch Weib und Kinder verhungern!“ Worauf das Gericht sich etwas plötzlich zur Beratung zurückzog. Wir waren allein: der Staatsanwalt, der Angeklagte und ich.
„Ist hier Publikum?“ fragte Danny demütig den Staatsanwalt.
„Nein“, entgegnete der, ein sehr netter Herr, der viel Sinn für Komik hatte. „warum fragen sie?“
„Wenn ich also hier unsittliche Vorträge hielte, wäre ich nicht strafbar, weil ja die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist. Das vorerst festzustellen, erfordert meine Staatsbürgerpflicht!“
Und nun trug er uns eine Anzahl dermaßen anstößiger „Dichtungen“ vor, daß uns schwül wurde. Während man im Nebenzimmer bereit, ob er wegen eines an sich harmlosen Büchleins in Pön zu nehmen sei. Einmal steckte der Vorsitzende den Kopf zur Tür herein. A tempo verstummte Gürtler. „Wer redet denn hier?“ fragte der Vorsitzende. Aber weder der Staatsanwalt noch ich konnten ihn aufklären. Wir wären vor Lachen erstickt. Worauf der Präsident, eine neue Teufelei Gürtlers witternd, verschwand. „Nach Abzug des anstoßberechtigten Publikums fahre ich fort!“ konferierte der Angeklagte.
Eine Stunde später war er freigesprochen und begrüßte dieses Erkenntnis als wahrhaft europäisches Ereignis, da brachte ihm der Saaldiener ein Telegramm. Danny öffnete es und las dröhnend vor: „Autodidaktisches Vortragphänomen interessiert mich. Drahtet, wann Probesprechen in München möglich. Gruß Possart.“
Tiefste Rührung markierend, reichte Gürtler das Telegramm dem Gerichtsschreiber. „Ihre Zukunft ist gesichert,“ sagte er, „ich habe Possart angefragt, ob er Ihnen Unterricht erteilen will. Hier seine freudige Bejahung!“
„Die Sitzung ist geschlossen!“ verkündete der Vorsitzende und hielt sich das Barett vor das Gesicht.
Das war meine erste Verteidigung.

[1] Justizrat Gustav Broda (1845-1912) war seit 1874 Rechtsanwalt und seit 1899 auch Notar in Leipzig.
Vgl.: Hubert Lang, Zwischen allen Stühlen. Juristen jüdischer Herkunft in Leipzig (1848-1953), Leipzig 2014, S. 283
[2] Johann Baptist Heimerl war der Inhaber des neuen Wiener Cafés in der Lortzingstraße 1.