dr. jur. Hubert Lang

Hans Bachwitz

Die Kunst, 95 Jahre alt zu werden

Es war, von vorn gesehen, rührend und imposant. Ein edler Greis, von alpacasilbernen Locken umwallt, mit einem fächerartig ausgespreiztem Vollbart aus gleichem Material vor der noch rüstigen Brust, mit rosiger Gesichtshaut und brillenlosen Augen über einer majestätischen Nase, gewandet in einen würdevollen Professorengehrock, bestieg mit schlechthin jugendlichen Schritten das Podium des bis in die letzten Winkel mit Zuhörern gefüllten Saales, um  dort den auf allen Litfaßsäulen angekündigten Vortrag: „Wie werde ich 95 Jahre alt?“ vom Stapel zu lassen.
Ich saß in der ersten Reihe, obwohl es mich eigentlich noch nicht unmittelbar betraf. Mit meinen 30 Jahren hatte ich unter normalen Umständen noch Zeit und brauchte mich vielleicht nicht so rasch mit Rezepten zu versehen, die meinem Leben Wolkenkratzerhöhe garantieren sollten. Aber: rasch tritt der Mensch den Menschen tot, und sterben kann man immer. Das hat man in der Hand und im Gashahn. Was hingegen das Leben anlangt, so ist dieser Faktor ja umso ungewisser, als es sich hierbei um ein Kapitel handelt, daß man täglich angreifen muß. Hier war es unbedingt von Vorteil, rechtzeitig zu erfahren, mit welchen Mitteln man dieses Kapitel auffüllen könne. Und deshalb saß ich in der ersten Reihe und wartete gespannt auf die goldenen Worte des edlen Greises vor mir. Die Spesen das Abends beliefen sich auf 30 Pfg. Eintritt und 10 Pfg. Programm. Letzteres war teuer, denn es stand nur darauf: „Einmaliger Vortrag des Herrn Eberhard Schnadohn, Professors der Universität Honduras, über das Thema: Die Kunst, 95 Jahre alt zu werden.  Hohe Anerkennungen, zahllose Auszeichnungen, ständig wachsende Lebensdauer aller, die Eberhard Schnadohn gehört haben!“ Darunter war ein Bild des Professors von Honduras, und er sah auf diesem noch rüstiger aus, als auf dem Podium. Es schien ein Jugendbildnis zu sein.
Ich will es kurz machen: Professor Schnadohn sprach drei Stunden hintereinander weg, ohne sich zu setzen, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne stecken zu bleiben, ohne umzufallen. Er sprach mit einer sonoren plastischen Geste, und alle zehn Minuten trank er ein Glas Wasser. Es waren 18 Glas Wasser und danach trank er noch den Rest aus der Flasche, die alle halbe Stunde frisch gefüllt wurde. Alles in allem mögen es zusammen 23 Glas Wasser gewesen sein, die der Professor hinter den Vollbart goß – eine Binde war nicht zu sehen – ohne, wie gesagt, das Podium auch nur für zwei Minuten verlassen zu müssen. Schon das wirkte faktisch und machte starken Eindruck auf die ganze Trauerversammlung.
Was nun aber die Regeln betrifft, die der Heilbringer verkündete, so stellte ihre Befolgung zweifellos starke Anforderungen an die körperliche und seelische Widerstandsfähigkeit des Adopten. Hauptsache war eine sinngemäße Lebensweise. Kein Wein, kein Weib. Der Gesang verbot sich infolgedessen von selbst. Ueberhaupt wenig Fleisch. Viel Gemüse. Nur sechs Stunden Schlaf. Dann eine Stunde bei offenem Fenster Nacktgymnastik. Zur Sommers- und Winterszeit wie der bekannte Tannenbaum. Insgesamt pro Tag mindestens drei Stunden Spaziergang. Am besten in der Sonne. Mindestens aber Sonntags. Nicht auf weichen Pfühlen unter Daunendecken seine unbedingt einsamen Nächte verbringen, sondern auf und unter einem Woilach. Mit Holzwolle gefütterte Matratze. Viel Gemüse. Beim Atmen Nase auf, Mund zu, ebenso Brust und Bauch. Als Getränk nur Wasser!! Gleich frühmorgens, noch ehe ein Hahn danach kräht. Da aber leicht angewärmt. Wegen des Stoffwechsels. Viel Gemüse. Wenn möglich, Fahnenstange vorm Haus. Zum Klettern. Wenig und nur leichte Lektüre. Aber viel Gemüse. Kein Tabak. Dafür Zitronenschalen kauen. Und viel Gemüse.
Das war in großen Klimmzügen der Inhalt des Vortrages, durch den Professor Schnadohn jedermann in die Lage versetzen wollte, 95 Jahre alt zu werden.
Sah man ihm an und glaubte man ihm, daß er von der Mutterbrust weg immer nach seinen Vorschriften gelebt hatte, so konnten Zweifel an der Trefflichkeit seiner Ratschläge nicht bestehen. Denn Schnadohn beendete seinen interessanten, von brausendem Beifall begleiteten Worte mit der Versicherung: „Wie Sie mich hier vor sich sehen, bin ich 96 ¾ Jahre alt und noch immer jung. Ich lebe von meinen Vorträgen. Deshalb tun Sie mir nach und merken Sie sich: Viel Gemüse!
Ich aber holte Lolo vom Cabaret ab, trank mit ihr Sekt, aß ein opulentes Souper, tanzte viel und entschlummerte schließlich zum letzten Male unter der Daunendecke auf weichem Pfühl in der seligen Gewissheit, daß ich von morgen ab 95 Jahre alt werden würde. Und daß ein neues Leben beginnen würde. Das neue Leben beginnt immer morgen.
Mit eiserner Stirn und stählerner Energie führte ich das Programm Schnadohns durch. Ich kündigte Lolo mittels eingeschriebenen Briefes und kaufte stattdessen eine Fahnenstange, die ich in den Garten eingrub. Ich versteigerte meinen Weinkeller und ließ mir in jedes Zimmer eine Wasserleitung legen. Ich verschenkte mein Bett und schlief auf Woilachs inmitten der Schlafstube auf den nackten Dielen. Ich aß nur Gemüse. Viel Gemüse. Früh, mittags und abends. Wenn ich Hunger hatte, kaute ich Zitronenschalen. Meine Zigarren hatte ich verbrannt. Ich müllerte bei offenem Fenster, bis alle Nachbarn die ihrigen verhängten. Ich ging andauernd spazieren. Ich schlief sechs Stunden. Dann vier. Dann zwei. Dann überhaupt nicht mehr. Stattdessen las ich. Leichte Lektüre. Das Adreßbuch.
Mitleidige Menschen fanden mich eines Tages vor der Stadt, dreiviertel Stunden von meiner Wohnung entfernt und führten mich in einem Kinderwagen nach Hause. So dürr und leicht war ich geworden.
Der Arzt machte eine Pferdekur mit mir. Sechzehn Stunden Schlaf, ja keine Bewegung, Bouillon oder Fleischbrühe, Roastbeef, Rotwein, Burgunder und Sekt. Kein Gemüse.
Nach anderthalb Jahren war ich soweit, daß ich ohne fremde Hilfe vom Bett zum Sofa gehen konnte. Natürlich in derselben Stube und mit Pausen. Der Arzt meinte, jetzt dürfe ich mich für gerettet halten und fragte, wie ich denn um Himmelswillen so hätte herunter kommen können.
„Ich wollte unbedingt 95 Jahre alt werden!“ flüsterte ich mit ersterbender Stimme.
Da zog der Arzt einen Psychiater bei.
Es geht mir ja soweit wieder ganz gut. Aber ich bin infolge der Schnadohnschen Rezepte schlohweiß geworden und sehe aus wie ein Greis. Und einen seelischen Knax habe ich auch weg; ich kann keine alten Leute sehen. Das macht mich tobsüchtig.